Interview mit Dr. Ramona Eden (geb. Zuehlke)

Wer führen muss, ohne Vorgesetzter zu sein, lernt schnell, worauf es bei der »lateralen«, der nicht hierarchischen Führung ankommt.


Frau Dr. Zuehlke, Führen ohne Weisungsbefugnis ist ein Thema, das uns beschäftigt, seit Unternehmen Führungspositionen abbauen und sich als Matrixorganisationen aufstellen – also seit Anfang der 90er-Jahre. Nun drängt das Thema wieder nach vorn. Heißt das, dass die Hierarchien noch flacher werden?
Das denke ich nicht. Was Hierarchieabbau und die Einführung von Matrixorganisationen anbelangt, hat sich in den vergangenen zehn Jahren wenig verändert. Das Thema Laterale Führung kommt heute aus einer anderen Richtung. Wir beobachten einen Generationenwechsel in den Unternehmen. Die jüngeren Führungskräfte sind mit dem Internet groß geworden, sie haben gelernt komplexe Fragen zu lösen, indem sie auf eine Unmenge von Informationen zugreifen. Solche vernetzte Informationsverarbeitung ist das Spiegelbild von Lateraler Führung. Viele Sachaufgaben können besser in interdisziplinären Teams gelöst werden, und dort funktioniert Top-down-Führung nicht so gut. Kommunizieren und Aushandeln von unterschiedlichen Interessen sind heute in viel stärkerem Maß das Wesen der Führungsarbeit als vor 20 Jahren.

Also nicht die Unternehmen verändern sich, sondern die Menschen, die führen und geführt werden?
Ja, die Menschen verändern sich, sie gehen anders an die Lösung von Problemen heran. Allerdings, wie bei vielen Wechselbeziehungen wandeln sich mit den Menschen auch ihre Unternehmungen. Die Firmen haben gelernt, dass es auf eine Frage mehr als nur eine Antwort gibt. Sie brauchen Experten aus mehreren Fachrichtungen, um komplexe Aufgaben zu lösen. Kein Unternehmen, das einen neuen Markt erschließt, setzt einfach einen Vertriebsprofi auf diese Aufgabe an und belässt es dabei, sondern es werden viele verschiedene Fachleute zusammengezogen. Die entscheidende Frage lautet: Wer kann die besten Beiträge zu einer integrierten Lösung liefern? Hierarchie ist in diesem Moment kein Thema, weil diese Experten gleichberechtigt zusammenarbeiten.

Gleichberechtigung, Ergebnisorientierung, Vernetzung – was will man mehr. Ist Laterale Führung besser als Top-down-Führung?
Die Frage ist, wofür besser oder schlechter. Bestimmte Führungssituationen erfordern bestimmte Führungsstile. Es geht nicht darum, das hierarchische Führungsverständnis vollständig abzuschaffen, sondern darum, jeweils passende Antworten auf Anforderungen zu finden. Wo mehrere Experten am Tisch sitzen, finden sich bessere, der Komplexität angemessenere Lösungen. Ein einzelner Kopf ist meist nicht so klug wie fünf zusammen. Dieses Potenzial lässt sich mit lateraler Führung eher erschließen. Vorerst außgenommen bleiben aber besondere Krisensituationen in Unternehmen: Hier können Hierarchie und Top-down-Entscheide nach wie vor von Vorteil sein.

Was ist daran neu?
Inhaltlich erst einmal nicht so viel. Wir kennen die Grundlagen der lateralen Führung schon länger unter dem Begriff der partizipativen Führung. Die Frage der Beteiligung, die Förderung von Eigeninitiative und Selbstverantwortung gehören seit je her auch zu den Erfolgsfaktoren im Change Management. Neu ist lediglich, dass die Fragen und zu lösenden Aufgaben, die einen systemisch-mehrperspektivischen Blick erfordern, an Häufigkeit zugenommen haben. Insofern gehe ich davon aus, dass dieser bisher punktuell eingesetzte Führungsansatz zu einer grundlegenden Führungskultur für Unternehmen werden wird.

Kann man eine Organisation auch an der Spitze lateral führen?
Sicher ist es auf den ersten Blick für viele Menschen ungewöhnlich ein ganzes Unternehmen als lateral geführt zu denken. Gleichwohl wird, dass ist meine tiefe Überzeugung, die klassische Hierarchie an Bedeutung verlieren. Wie weit, wird die Zukunft zeigen müssen. Die Tendenz ist aber schon jetzt beobachtbar. Vielerorts wird es bereits praktiziert, nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus purem Pragmatismus. Auch in inhabergeführten Unternehmen, die gemeinhin als besonders hierarchisch gelten, gibt es einen Familienrat oder Familien-Managementrat, der zum Beispiel Investitionen gemeinsam beschließt, das  unternehmerische Risiko gemeinsam trägt. Eine Gruppe vereint einfach mehr Perspektiven und Kompetenzen als der Einzelne, deshalb trifft sie meist klügere Entscheidungen.

Sie wollen doch nicht leugnen, dass einsame Entscheidungen nach wie vor an der Tagesordnung sind?
Nein, aber es sind nicht immer die klügeren. Nach meinem Eindruck werden es aber in der Tat weniger. Die spannende Frage ist, wie gut das, was Top-down an strategischen Rahmenvorgaben entschieden wird, mit dem harmoniert, was lateral in der Umsetzung stattfindet und somit tatsächlich wirksam wird. Die beste Strategie der Spitze nützt doch nichts, wenn die Mitarbeiter sie nicht mit Herz und Verstand tragen.

Aus Sicht der Unternehmen ist laterale Führung ein komfortables Konzept. Sie sichern sich eine gute Führungsleistung, kommen aber mit weniger Führungspositionen aus und zahlen entsprechend weniger für Chefgehälter und Statussymbole. Haben wir es mit einem Sparmodell zu tun?
Nein, eher ein Investition-in-nachhaltig-tragfähige-Lösungen-Modell. Wenn kollektive Lösungen gefunden werden, wäre es ungerecht, einzelne Personen zu gratifizieren, insofern spart laterale Führung tatsächlich Geld für Boni oder Statussymbole Einzelner. Unter dem Strich sieht die Rechnung anders aus, vermute ich. Es fällt ein höherer Abstimmungsaufwand an, es muss verstärkt in Kickoff-Veranstaltungen oder Workshops investiert werden. Der springende Punkt ist die Zeit:
Einer allein entscheidet mitunter ruckzuck, während eine Gruppe zwei Stunden lang diskutiert, bevor sie alle Perspektiven, Einflußfaktoren und Auswirkungen erörtert hat und dann ihre Entscheidung trifft. Der reine Spareffekt ist daher wahrscheinlich negativ. Auch wenn Sie auf Statussymbole verzichten, müssen Sie im übrigen die Experten, die diese temporäre Form der Führung ausüben, gut bezahlen. Die Kosten verteilen sich anders, die Lösung ist meist deutlich besser.

Wie funktioniert laterale Führung in der Praxis?
Der wesentliche Unterschied zur Top-down-Führung besteht darin, dass es sich nicht um eine dauerhafte Führungsverantwortung handelt, sondern eine zeitlich begrenzte. Jemand schlüpft in eine maßgebliche Rolle für eine Sachfrage oder ein Projekt, ohne dass er den Mitarbeitenden disziplinarisch vorgesetzt ist. Meist ergreifen zwei, drei Personen die Initiative.

 … was die Bereitschaft voraussetzt, mehr zu arbeiten als der Rest. Wie kristallisieren sich diese handelnden Personen heraus? Sind das die Alpha-Tierchen im Team?
Sicher haben Stand und Autorität im Team ihren Einfluss. Das Pferd wird jedoch meist andersherum aufgezäumt: Erst kommt das Thema, dann das Team. Eine Person im Unternehmen nimmt sich eines Problems an und sucht passende Leute, die zur Lösung beitragen können. Entweder das Unternehmen verfügt über eine Wissensdatenbank, die die Zuordnung von Themen und Experten erleichtert oder man weiß einfach, wer welche Expertise hat. Sobald die Aufgabe erledigt ist, löst sich diese Struktur wieder auf. Im klassischen Führungsverständnis sind dagegen bestimmte Verantwortlichkeiten an eine Vorgesetztenrolle gebunden – es ist halt der Job des Bereichsleiters, strategische Fragen aufzugreifen und Projekte zu definieren, weil er Bereichsleiter ist und nicht weil er die Initiative übernehmen will.

Was ist schwieriger: lateral oder top-down führen?
Die Anforderungen an laterale Führung sind höher, viel höher. Das klassische Führen spart zunächst einmal Zeit, weil Prozesse abgekürzt werden. Jeder weiß, was in die Zuständigkeit des Bereichsleiters fällt, also gibt es darüber keine Diskussion. Aufgrund dieser formalen Zuschreibung hat ein offizieller Teamleiter eine einfachere Verhandlungssituation als der Projektleiter, der lateral führt. Der Teamleiter beeinflusst die Karriere und das Gehalt der Teammitglieder, deshalb folgen sie seinen Anordnungen, oft ohne den Sinn zu hinterfragen. Laterale Führung baut dagegen auf Freiwilligkeit. Weil Sie kein Druckmittel haben, sind Sie auf Kommunikation, Beteiligung, Kooperation, Verhandlungsgeschick angewiesen. Wenn Sie so wollen, ist das klassische Führen eher ein Kinderspiel gegen das laterale Führen.

Kann man laterale Führung lernen?
Ja, wobei ich momentan den Eindruck habe, dass Führungskräfte, die längere Erfahrung im hierarchischen Führen mitbringen, es leichter haben, zur lateralen Führung zu wechseln, als jene, für die das Thema Führung insgesamt neu ist. Als gereifte Führungskraft legen Sie zwei, drei Schalter um und kriegen das hin. Jüngere Führungskräfte geraten oft ziemlich ins Schwimmen. Sie haben noch nicht die hohe kommunikative Kompetenz und Überzeugungskraft. In der lateralen Führung zählt vor allem Ihre Persönlichkeit: Können Sie Menschen begeistern, sie integrieren, Interessen bündeln, können Sie kompromissorientiert verhandeln? Wie gut gehen Sie mit Unterschieden um, das heißt, wie stark ist Ihre Diversity-Kompetenz ausgeprägt? Wie reif Sind Sie als Mensch und Führungskraft?

In Ihren Seminaren sitzen nicht nur die alten Hasen. Auf welche Resonanz stoßen Sie beim Nachwuchs?
Jüngere Führungskräfte sind zwar begeistert, empfinden laterale Führung aber oft als Rutschpartie. In Workshops werde ich oft gefragt: „Wie soll ich jemanden dazu bringen, das zu tun, was ich möchte, wenn er nicht muss?“ Das gelingt nur, indem sie in der ganzen Kommunikation auf die innere Zustimmung der Beteiligten zielen. Alles ist Verhandlungssache, niemand kann gezwungen werden. Da sitzen Sie mit fünf klugen Leute zusammen, die fünf kluge, leider unterschiedliche Ideen auf den Tisch werfen – da können Sie die Diskussion nicht einfahc abkürzen und sagen: So wird’s gemacht, basta. Sie müssen versuchen zu verstehen, wo es Unterschiede und wo Gemeinsamkeiten gibt. Sie müssen in Verhandlungen darüber eintreten, was der beste Weg zum Ziel ist.

Das würde von mir verlangen, mich als Person stark zurückzunehmen. Zurückhaltung gilt aber nicht als Tugend im Management.
Noch nicht! Als Person, die die Beiteiligung aller Anwesenden und die systemische Lösungssuche möglich machen, sind Sie viel sichtbarer. Als Lösungsfinder treten Sie etwas in den Hintergrund. Manche Führungskräfte mit einer Macher-Identität können es anfänglich tatsächlich schwer verdauen, wenn sie durch laterale Führung merken, dass nicht sie selbst die beste inhaltliche Lösung gefunden haben. Sie sind darauf trainiert, schnell Entscheidungen zu treffen. Für diese Menschen ist es eine große Herausforderung, vom Selbermachen zum Kommunizieren, Kooperieren, Verhandeln überzugehen. Das bedeutet ein anderes Führungsverständnis und eine wirklich andere innere Haltung. 

Welche Widerstände tauchen bei der lateralen Führung auf?
Sowohl Widerstände seitens der Organisation als auch seitens der handelnden Personen. Beide Seiten haben ja Routinen und Gewohnheiten, die sich nur langsam transformieren lassen. An der Art der gemeinsamen Lösungssuche ändert sich ja Beträchtliches. Da ist zunächst der Faktor Zeit. Bis fünf Leute sich zusammengerauf haben und ihre Sichtweise austauschen, dauert es länger, als wenn einer überlegt und seine Einzelentscheidung trifft. Die Organisation fürchtet deshalb, Zeit zu verlieren. Ein anderes Thema lautet Verantwortung. Viele sind doch deshalb so überzeugt von Hierarchien, weil es Einzelne gibt, die man verantwortlich machen kann. Wenn Sie es aber mit temporären Teams zu tun haben – wem reißen Sie dann ein halbes Jahr später den Kopf ab, wenn es schief gegangen ist? Hier braucht es einen neuen Umgang mit kollektiver Verantwortung. Nur so kann die Skepsis der Organisationen abnehmen. 

Und die Skepsis der Mitarbeiter?
Die gründet auch auf die Sorge um Zuständigkeit und Zeitbudget. Viele Menschen, egal ob Führungskräfte, Kollegen oder Mitarbeiter empfinden eine Art Ohnmacht, wenn sie auf Freiwilligkeit setzen sollen. Wie  gesagt, Weisungsbefugnis läuft auf Abkürzen von Auseinandersetzungen hinaus. Wenn der Mitarbeiter sagt, er macht dieses oder jenes nicht, dann wirft eine solche Reaktion die Führungskraft auf sich selber zurück. Plötzlich steht sie ohne Druckmittel und Schutz einer hierarchischen Rolle da. Aber auch Mitarbeiter sind gefordert. Es ist viel leichter den Chef zum Sündenbock zu machen, als sich selbst mit globalisierten Märkten, Ressourcenengpässen oder Konkurrenzdruck zu beschäftigen. In lateralen Arbeitssituationen müssen auch Mitarbeiter ihre Perspektiven erweitern und mehr Verantwortung übernehmen. Insofern stellt laterale Führung an alle Beteiligten neue Herausforderungen.

Eine gute Führungskraft sollte die Situation meistern können.
Ja, sollte, wie alle Mitarbeiter auch. In letzter Zeit habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass auf der Ebene der Kommunikation einiges an Verbesserungspotential schlummert. Viele Führungskräfte tun sich beispielsweise schwer damit, zeitnahes, konstruktives Feedback zu geben. Oder denken Sie an so etwas scheinbar triviales wie Fragekompetenz. Mich überrascht öfter, wie hoch der Anteil an Suggestivfragen oder rhetorischen Fragen in der Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern ist. Menschen hören für meinen Geschmack viel zu wenig zu, sie versuchen nicht umfassend zu verstehen. Sie formulieren Fragen nicht, um Einsichten und Verständnis zu gewinnen, sondern um sich ihre eigene Meinung bestätigen zu lassen. Manche brauchen zehn Minuten, um auf Zuhören umzuschalten, statt immer nur Statements abzugeben. In meinen Augen liegt hier eine Grundvoraussetzung lateraler Führung. Wir brauchen in viel stärkerem Maß eine innere Haltung, unvoreingenommen und mit Achtung zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. 

Gibt es auch versteckte Widerstände gegen laterale Führung?
Natürlich, genauso wie es die Form des inneren Widerstands gegen die klassische Führung gibt. Leute verbummeln Termine, Aufgaben bleiben liegen, die Motivation sackt ab. Es ist wichtig, die Ursachen zu erforschen. Warum zieht jemand nicht mit? Warum kann er oder sie sich nicht integrieren? In dem Moment, in dem Sie den Widerstand in den Untergrund zwingen, können Sie das Projekt vergessen – das ist wie im Change Management. Sie müssen herausfinden, welche Voraussetzungen die Mitarbeitenden brauchen, um ihren Beitrag zu leisten, und alle Beteiligten müssen sich mit Gegebenheiten, Einschränkungen und Anforderungen auf eine hinlänglich erwachsene Weise auseinandersetzen. Das sind keine trivialen, sondern ziemlich hohe Anforderungen an Einzelne. Ich kann jeden verstehen, der sich gelegentlich nach Abkürzungen sehnt.

Wie sollen Unternehmen gute Leistungen in der lateralen Führung belohnen? Die gängige Praxis des Beförderns passt sicher nicht zur Idee der lateralen Führung.
Das stimmt. Wenn ich in der herkömmlichen Logik befördere und gratifiziere, dann sabotiere ich die Idee der lateralen Führung. Viele Menschen denken bei Karriere aber nicht mehr nur an Führungslaufbahn und hohes Gehalt. Das, was Menschen im Beruf motiviert, sind heute Werte, Kompetenzentwicklung, vielfältige Aufgaben. Dies können Sie mit lateraler Führung sehr gut verbinden. Außerdem benötigen Sie ein Vergütungssystem, das den Team- und Gesamterfolg belohnt – so klappt’s.

Frau Dr. Zuehlke, vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Christoph Stehr vom Magazin "Personalführung", Ausgabe 4/2008

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