Systemisches Führen: Die Organisation als Organismus verstehen

Interview mit Christine Zimmer


Als Trainerin und Organisationsberaterin leitet Sie ein systemischem Denken. Wie beeinflusst das Ihre Herangehensweise in Leadership Seminaren?

Viele klassische Führungsseminare beschäftigen sich hauptsächlich mit der Entwicklung der Führungspersönlichkeit, arbeiten also individualpsychologisch, oder mit der Beziehungsgestaltung zu den Mitarbeitenden und Teams. Dahinter steckt meist die Annahme: Wenn ich mich persönlich gut entwickle, werde ich eine gute Führungskraft – und mit der Organisation bin ich über meine Entscheidungen verschaltet. Wenn diese also gut sind, dann passt alles. In diesen Annahmen verbirgt sich ein mechanistisches Modell von Organisation. Dieses greift zu kurz, um den erlebten Führungsalltag zu erklären, in dem die Führungskraft trotz aller guten Ansätze oft nicht wie gewollt wirksam werden kann. Die Systemtheorie bietet ein anderes Modell der Organisation an. Nach der Systemtheorie sind Organisationen komplexe soziale Systeme, eher vergleichbar mit einem biologischen Organismus – was ja auch schon im Begriff der »Organisation« steckt. Im Umgang mit diesem Gedanken wird es spannend: Was muss ich als Führungskraft kennen, denken und reflektieren, wenn man die Organisation so betrachtet? Und was heißt das dann für mich, meine Funktion und mein Handeln als Führungskraft?

Wohin lohnt sich als Führungskraft ein Blick, um das eigene Führungshandeln besser ausrichten zu können?

Beim Thema Organisation denken viele an ein Organigramm. Das ist eigentlich nur eine Darstellung von theoretisch gültigen Kommunikationswegen: wer hat hier wem was zu sagen und worüber. Zuständigkeiten und Hierarchie werden abgebildet. Wenn ich glaube, dass das einfach so nach dem Modell funktioniert, werde ich nie verstehen, warum in der Realität z.B. vom Top Management getroffene Entscheidungen nicht in die Umsetzung kommen. In der Systemtheorie sind nicht die Menschen die Elemente der Organisation, sondern ihre Kommunikation. Es ist am Anfang immer ein bisschen komisch so zu denken. Wir alle haben aber individuelle Sichten von Geschehnissen, von der Organisation, uns selbst und den anderen, die wir untereinander immer wieder in einen Abgleich bringen, indem wir darüber kommunizieren. Diese Sichtweise auf die Organisation als hochkomplexes Kommunikationsgeschehen gibt schon eine andere Perspektive auf meine Rolle als Führungskraft. 

Haben Sie ein Beispiel aus der Praxis, das vielleicht jeder aus seinem Unternehmen kennt, bei dem mit diesem Verständnis schnell klar wird, warum es z.B. hakt?

Ein Beispiel: Berater werden meistens in eine Unternehmen gerufen, wenn es ein Problem gibt, das man gefühlt selbst nicht mehr lösen kann, wenn also etwas nicht so läuft, wie es sollte. Und dann muss eine Veränderung her. Wenn während der Beratung ein Management-Team offen miteinander über die »kritische Überlebensfrage« redet, also darüber, was jetzt als erstes angegangen werden muss, um das Überleben der Organisation zu sichern, dann werde ich als Beraterin möglicherweise so viele Meinungen dazu erhalten, wie Leute im Raum sind. Der Vertriebsleiter sieht den steigenden Konkurrenzdruck, die Logistikchefin spricht von Lieferengpässen, der HR-Manager betont den Fachkräftemangel. Die einzelne Person hat immer ihre eigene Wahrnehmung aus ihrer eigenen Funktion heraus. Das liegt daran, dass wir in Organisationen arbeitsteilig agieren, womit sofort ein paradoxes Problem entsteht: die Arbeitsteilung bringt unterschiedliche Rationalitäten hervor, die gegeneinander arbeiten und zudem dem „Blick aufs Ganze“ entgegenstehen. Diesen Widerspruch kann ich nie final auflösen, es gibt immer nur eine sich derzeit besser anfühlende Antwort auf ein Problem. Man sieht das gut auch an typischen Zyklen, die größere Unternehmen regelmäßig durchlaufen, wie z. B. das Oszillieren zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung. Mit dem systemtheoretischen Blick erkennt man hier die Bearbeitung eines nicht final lösbaren Paradoxons – und nicht z.B. schlechtes Management oder Entscheidungslosigkeit. Das ist denke ich eine wichtige Erkenntnis für Führungskräfte.

Kann man in diesem Zusammenhang von Kommunikationsinseln in Unternehmen sprechen?

Ich würde es eher Kommunikationsmuster nennen. Eigentlich geht es immer um Musterbildung. Ganz konkret an einem Beispiel, es gibt ja diesen typischen Managersatz: »Ich will keine Probleme, ich will Lösungen«. Da wird der Anspruch gestellt, dass es eine richtige Lösung gibt und die gilt es möglichst schnell zu finden und umzusetzen. Wenn ich systemisch auf das Problem schaue, dann frage ich nicht einfach nach der Lösung, sondern danach, wie die Beteiligten es schaffen, jeden Tag aufs Neue dasselbe Problem zu generieren, und welchen Nutzen dieser Prozess hat. Es geht also darum, eigene Muster und ihre Funktionalitäten zu hinterfragen. Welcher Rationalität folgen wir gerade bei diesem Muster, und warum und was heißt das für die anderen Rationalitäten im System? Wenn Führungskräfte es schaffen, Probleme nicht als etwas faktisch im Raum Liegendes zu sehen, sondern als einen Prozess, den die Beteiligten miteinander vollziehen, dann ergeben sich daraus ganz neue Fragestellungen und Herangehensweisen.

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Wie verankert man diese Denkweise im Unternehmen?

Das lässt sich nicht einfach beantworten. Das Wissen alleine wird meistens nicht ausreichen, sondern Führungskräfte brauchen eine für sie positive Erfahrung mit dieser Art des Denkens, Analysierens und Entscheidens. Wenn ich systemisch analysiere, dann schaue ich nicht nur auf Einzellösungen, sondern ich betrachte die Organisation in ihrer Umwelt und stelle mir die Frage: Bildet meine Organisation bzw. meine Organisationseinheit eine genügend erfolgreiche Antwort für die Anforderungen ab, die sie von außen, also aus ihren relevanten Umwelten, aufnehmen kann? Aus dem, was ich von außen als relevant innerhalb der Organisation aufnehme, bilde ich Hypothesen, wie sich die Zukunft entwickeln wird, und treffe Entscheidungen, deren »Richtigkeit« sich erst nach Umsetzung und im Rückblick bewerten lässt. Wenn man dagegen hauptsächlich lösungs-bewusst »vor sich hin werkelt«, kann das auch funktionieren, kann aber im Ergebnis zum Gefühl beitragen, als Führungskraft unwirksam zu sein.

Was konkret macht jetzt eine »systemische Führungskraft« anders als andere Führungskräfte?

Die systemische Sicht verstehe ich als Angebot – sie ist kein Allheilmittel –, über das ein sehr guter anderer Zugang zum Thema Organisation und Führung geschaffen werden kann. Dabei kann ich z. B. das Thema Führen von Personen trennen – und damit meine ich nicht entmenschlichen – und es als einen Prozess begreifen, in dem ein Zyklus aus Entscheiden, Umsetzen und Überprüfen stattfindet. Egal wie organisiert, beim Führen geht es immer darum, Entscheidungen herbeizuführen, um irgendetwas zu erreichen. Wenn Führung ein substanzieller Prozess für die Organisation ist, welche Rolle habe ich dann in diesem »Spiel«? Wie gestalte ich Führung in meinem Verantwortungsbereich? Sehe ich mich hauptsächlich als Kontrolleur für die Einhaltung von Regeln oder fange ich an, die Spielregeln selbst zu modifizieren?

Wenn ich Teilnehmender Ihrer Seminare war, wie wende ich mein Wissen nun im Unternehmen an?

Es wäre ein übersteigerter Anspruch, aus einem Seminar eine Art Rezeptbuch rauszuziehen. Der Mehrwert besteht vielmehr aus anderen Gedankenansätzen und einer anderen Wahrnehmung von bestimmten Situationen. Ich kann eine »systemische Brille« aufziehen und vielleicht etwas Zusätzliches oder Anderes sehen im Vergleich zu vorher. Wie agiere ich, wie erlebe ich gewisse Situationen? Zunächst einmal ist es ein Erkenntnisgewinn, auf dem ich Entscheidungen möglicherweise anders treffe als davor und ein Ausgangspunkt für »Irritationen«, die ich ins System geben – anstelle einfacher Lösungen. Wie kann ich das System so irritieren, dass eine wie auch immer geartete Antwort rauskommt? Denn komplexe Systeme antworten eben nicht »einfach« auf Veränderungsimpulse. Und damit erhalte ich wieder neue Informationen, ob vielleicht eine andere Problemlösung besser geeignet wäre als die aktuelle.

Wir haben als Ergänzung zu einer individuellen Sicht auf Führung viel über die Organisation gesprochen. Dazwischen steht das Team als Organisationseinheit. Wie helfen mir hier die neugewonnen Erkenntnisse?

Indem ich das Team auch wieder als einen Austragungsort paradoxer Anforderungen begreife: Hier werden die Rationalität der Organisation, also die theoretisch formulierten Ansprüche hinsichtlich der Zuständigkeiten und der Funktion des Teams, mit den Ansprüchen des Individuums und dem sozialen Interaktionsraum der Gruppe, als dem Wir, in eine Einheit gebracht. Modellhaft spannt sich hier ein Dreieck zwischen der Organisation, dem Individuum und dem Team auf. Diese Erkenntnis kann erst einmal entlastend sein für Führungskräfte. Die eigene, sagen wir mal, Empörung darüber, wieso manches irgendwie scheinbar falsch läuft, kann man ganz anders einordnen und man merkt selber, wie man zwischen verschiedenen »Richtungen« im Team schwankt. Hier gilt es, Kommunikationsräume zu schaffen, um genau das besprechbar zu machen. In einem Team geht es immer auch um diesen »Korridor des Sagbaren«. Wie belastbar sind die Beziehungen? Sind wir ein echtes Team oder ein zufällig zusammengewürfelter Haufen von Leuten, die alle ihre eigenen Interessen verfolgen?

Entlastung der Führung durch Wissen um das System Organisation und die Wichtigkeit, Kommunikationsräume zu schaffen – das sind auch die Themen Ihrer Seminare und damit ein guter Schlusspunkt für unser Gespräch. Vielen Dank für die spannenden Einblicke! 

Vielen Dank auch von meiner Seite. Ich freue mich auf die kommenden Veranstaltungen!

UNSERE INTERVIEWPARTNERIN

Soziologin, Organisationsberaterin und Trainerin

Ausgewählte Schwerpunkte
> Entwicklung und Training von Führungskräften
> Kommunikationstheorie und -praxis
> Strategie- und Teamentwicklungsworkshops
> Systemische Organisationsberatung

 

 

Christine Zimmer

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